Wenn Hunde zu Raubtieren werden. 22.01.2010
Im Winter sind Rehe besonders leichte Beute: Das Futter ist rar, die Kraftreserven sind deshalb oft angezehrt. Hinzu kommt in höheren Lagen der tiefe Schnee, der die Fortbewegung erschwert. «Wenn ein Reh in einem solchen Moment angegriffen wird, ist es ein Leichtes, es zu töten», sagt der kantonale Jagdinspektor Peter Juesy. Das gilt sowohl für wilde Raubtiere wie den Luchs oder Wolf. Aber auch für andere Beutetierfresser, sogenannte Karnivoren: Jedes Jahr werden im Kanton Bern um die 100 Rehe von Hunden gerissen. Eine Tatsache, die immer wieder für Erstaunen sorgt. «Besonders unter Hundehaltern», wie Juesy erklärt. Denn nicht immer sind es streunende Hunde, die die Rehe angreifen. «Es kommt auch oft vor, dass Hunde Rehe oder andere Wildtiere während eines Spaziergangs mit ihrem Herrchen oder Frauchen reissen – ohne dass diese davon etwas mitbekommen», sagt Juesy.
Jeder Hund ist Jäger
Ein sonst friedfertiger Hund, der ein bis zu 30 Kilogramm schweres Huftier reisst – wie kann das sein? «Das Jagdverhalten ist dem Hund angeboren», erklärt Jagdinspektor Juesy. Das bestätigt auch Bruno Wittwer, Präsident des Kynologischen Vereins Thun: «Ein Hund kann zu Hause das liebste Tier sein, draussen in der Natur aber wird er von seinen Trieben geleitet.» Entdecke er ein Reh, wecke dieses mit seinem Fluchtverhalten den Jagdinstinkt. Das anschliessende Jagen versetzt den Hund in einen euphorischen Rauschzustand. «Dieses Verhalten ist praktisch bei allen Hunderassen zu beobachten – grosse Unterschiede zwischen den verschiedenen Rassen gibt es nicht», sagt Wittwer. Auch Hunde kleinwüchsiger Rassen seien gute Jäger.
Laut Jagdinspektor Peter Juesy geschieht das Reissen eines Tieres oft innerhalb von wenigen Minuten. «Da reicht es schon, den Hund nur für kurze Zeit von der Leine zu lassen und aus dem Blickfeld zu verlieren», so Juesy. Er habe einen solchen Fall selbst während seiner Tätigkeit als Wildhüter in Adelboden im Gebiet Ausserschwand von der Talseite vis-à-vis beobachtet. «Der Hund hatte sich nur rund zehn Meter von seiner Halterin entfernt und hinter einer Scheune ein geschwächtes Reh entdeckt, das er dann innerhalb von kaum einer Minute zu Tode biss.» Gerade im Wald, so betont auch Bruno Wittwer vom Kynologischen Verein Thun, sei es nicht einfach, den Hund permanent unter Kontrolle zu halten.
Eindeutiges Reissmuster
In vielen Fällen gibt es laut Juesy Zeugen, die das Beobachtete melden. Manchmal aber bleibt von einem Riss nur der Kadaver übrig. Woher ist in solchen Fällen klar, dass ein wildernder Hund der Übeltäter war? «Hunde beissen Tiere praktisch immer in die Hinterläufe und reissen das Fleisch heraus. Sofort getötet werden die Tiere somit nur selten», erklärt der Jagdinspektor. Der Luchs hingegen packe seine Opfer direkt am Hals und töte sie rasch. Das typische Reissmuster des Hundes ist allerdings auch bei seinem Vorfahren, dem Wolf, zu beobachten. «Die absolute Sicherheit, dass ein wildernder Hund einen Riss begangen hat, bringen dann jeweils DNA-Analysen.»
700 bis 800 schweizweit
2006 hat das Jagdinspektorat im ganzen Kanton Bern 101 von Hunden gerissene Rehe gezählt, 2007 waren es 99, 2008 gar 153. Doch nicht nur Rehe fallen wildernden Hunden zum Opfer, auch Murmeltiere, Hasen, Katzen, Gämsen, Steinböcke, Füchse oder Schwäne werden in der Statistik erfasst. «Bei kleineren Tieren haben wir wegen der relativ hohen Dunkelziffer keine verlässlichen Zahlen», erklärt Juesy. Verletzte Murmeltiere beispielsweise würden sich zum Sterben in ihren Bau zurückziehen. Hinzu kommt: Nicht selten werden die Tiere auch zu Tode gehetzt, klar zuweisen lässt sich die Todesursache ohne Bisswunden dann allerdings nicht.
In höheren Lagen, wo mehr Schnee liege, sei das Problem mit wildernden Hunden im Winter grösser. Aber auch im Flachland würden zahlreiche Tiere gerissen. «Es handelt sich um ein gesamtschweizerisches Problem, das sich allerdings in erster Linie in jenen Kantonen manifestiert, die keinen Leinenzwang kennen», betont Juesy. Im Kanton St.Gallen werden beispielsweise jährlich zwischen 70 und 100 gerissene Rehe gezählt. Schweizweit sind es jährlich zwischen 700 und 800 Tiere.
«Halter sind das Problem»
Für den Jagdinspektor ist klar, dass nicht der Hund an sich das Problem ist. «Unsere Wildhüter haben alle ebenfalls einen Hund und arbeiten im Alltag eng mit diesem zusammen», betont Juesy, selber langjähriger Hundehalter. Für Probleme sorge in erster Linie die Unkenntnis gewisser Halter. Das betont auch Bruno Wittwer vom Kynologischen Verein Thun: «Leider weiss die Mehrheit nicht genug über die Hundehaltung Bescheid.» Das A und O sei die Erziehung. «Gehorcht ein Tier nicht zu 100 Prozent, gibt es nur eins: den Hund an der Leine lassen.» Ins selbe Horn stösst auch der Jagdinspektor: «Das Gesetz schreibt klar vor, dass Hunde im Wald oder auf Wiesen nur dann frei laufen gelassen werden dürfen, wenn ihr Halter sie wirksam unter Kontrolle halten kann.» (Thuner Tagblatt)
Wildernde Hunde in Deutschland, Österreich und der Schweiz.